Auch im fernen London weilend unterlasse ich die Lektüre der bessere Weltwoche nicht. Anstelle die Themen Wahlen, Krawalle, Linke, Rechte, Blocher, Jenni auf das Titelblatt zu heben, beleuchtet man lieber einen anderen, längerwährenden Aspekt des Alltags in der Schweiz:
Wir bewegen uns im legalen Bereich, und es macht doch keinen Sinn, dass meine Frau mehr arbeitet, nur um die horrenden Krankenkassenprämien zu bezahlen.
Quelle: WIR ABZOCKER
Das sagt nicht etwa ein Scheininvalider oder eingebürgerter Ausländer, sondern ein Mittelständler. Ist dagegen etwas einzuwenden? Überhaupt nicht, im Gegenteil: Unsere Nation sollte stolz sein, von Personen bevölkert zu sein, die – egal aus welcher Schicht sie stammen – den Grundsatz der Nutzenmaximierung verinnerlicht haben und täglich anwenden. Der homo oeconomicus helveticus in seiner vollen Pracht.
Jeder Verfechter der freien Marktwirtschaft und des Kapitalismus wird erleichtert in den Lesestuhl zurückfallen und leise zu sich sagen: Gottseidank sind wir mit einer solchen Bevölkerung der Zukunft gewappnet! Die Wirtschaftlichkeit steht und fällt mit jedem einzelnen Bürger – da kann passieren was wolle, als Nutzenmaximierer überstehen wir jeden wirtschaftlichen Wirbelsturm.
Übrigens: Trotzdem – oder gerade deswegen – bin ich der Meinung, dass die Steuererklärung auf einem Bierdeckeli Platz finden sollte. Schlupflöcher jeder Art bringen den Wohlhabenden nämlich in jedem Fall mehr als uns armen Schluckern da draussen …
Von den schwächsten Nutzenmaximierern
Dient die Oberschicht der Mittelschicht als negatives Vorbild, so funktioniert die Unterschicht als Sündenbock und Projektionsfläche für eigene Verfehlungen. Die so erfolgreiche rechtsnationale Wahlkampagne gegen den «Sozialmissbrauch» in der Unterschicht, wozu als Beispiele fast ausnahmslos Fälle von Migranten herangezogen wurden, hat in der Bevölkerung eine Empörung ausgelöst, die angesichts der eher geringfügigen Betrugssummen rational schwer zu erklären ist. Was ist passiert? Sozialhilfeempfänger nutzen Anreize aus, die ihnen das System bietet. Das ist unmoralisch – aber es gehorcht derselben Logik, nach der jeder Steuerberater seine Kunden berät.
Der Bürger der Schweiz aber ist «ethisch intrapersonal gespalten», wie Ulrich Thielemann sagt: «Er kauft mittags im grossen Stil Fairtrade-Produkte und versucht abends einen kleinen Versicherungsbetrug.»