Kollege Zgraggen fährt anlässlich des Wahltages den Totschläger aus:
Und Ursula Wyss ist vielleicht im sozial-kulturellen Gernhabe-Kuchen der Stadt Bern nahe am Bürger; aber wer 34 Jahre lang nur vom Staat profitiert, und danach immer noch den Mut hat, mit weiteren Ideen aufzufahren, wie das von anderen erarbeitete Geld am besten zu verschleudern ist […], hat nicht nur beim Automechaniker-Lehrling im Emmmental keine Glaubwürdigkeit mehr…
Quelle: Votez mit starkem Tobak
Im vorangehende Kommentar sieht er den FDP-Kandidaten Pierre Triponez als deutlich „bürgernaher“. Was auch immer das heissen mag: Ich persönlich sehe mich lieber durch eine 34-jährige, linksstehende Mutter im Rat vertreten als durch einen kurz vor der Pension stehenden FDPler aus der alten Garde, der sich im steuergünstigen Muri b. Bern niedergelassen hat.
Würde das mit Bürgernähe wirklich zählen, müsste man wohl 80%+ des Parlaments nach Hause schicken. Gemäss dem Anteil an der Bevölkerung dürften dann vielleicht 5 Unternehmer, 2 Bauern und 193 Arbeitnehmer Einsitz nehmen. Die Quote könnte beliebig angepasst werden: Auch Ausländern – Deutsche, Franzosen, Serben, Albaner, Türken, Tamilen, etc. – und den Religionsgruppen – Christen, Muslimen, Buddhisten etc. – müsste genügend Platz eingeräumt werden. Dann, ja dann hätten wir eine „bürgernahe“ Politik die ihren Namen auch wirklich verdienen würde. Ich glaube aber nicht, dass man dann noch von Demokratie sprechen könnte …
Fakt ist: Ursula Wyss hat das beste Resultat der SP-Frauen gemacht. 57’000 Stimmen heimste die von Zgraggen als Geld-„Verschleuderin“ titulierte Kandidatin um 21:43 Uhr (Bern fehlt noch) ein. Triponez 38’116. Da verkennt wohl jemand den Wert des FDPlers – oder ist auf den „billigen Populismus“ Wysscher Prägung hereingefallen (jung, Mutter, links, studiert).
Zugangsbeschränkungen gefordert
Eine ähnliche Diskussion riss Kollege Schmid letzten Herbst an: Er fand es unerhört, dass junge Politikerinnen ohne jegliche Meriten (explizit war von Ursula Wyss und Evi Allemann die Rede) es doch tatsächlich wagten, für die Wahlen anzutreten. Ein Trauerspiel sei es, Personen in den Rat einziehen zu sehen, die noch nie in ihrem Leben in der Privatwirtschaft gearbeitet hätten und nie aus dem Elfenbeinturm der Universität hinausgeblickt hätten. Wie sollten solche Personen politisieren, ohne je den Ernst des Lebens mitbekommen zu haben?
Ich verstand die Kritik nicht ganz – ist es nicht gerade das Grundprinzip der Demokratie, dass sich jeder aufstellen und wählen lassen kann? Und wenn man den Wähler nicht überzeugt, wird man auch nicht gewählt. Marktwirtschaft pur – zumal SPlererinnen auch nicht im Verdacht stehen, ihre Stimmen kaufen zu können. Da die beiden Damen (mit beachtlichen Stimmenzahlen) gewählt werden, heisst dies doch, dass ihre politischen Inhalte beim Stimmbürger ankommen (oder wie erklären sich die beiden Haudegen deren Abschneiden?). Oder im Umkehrschluss: Das die Politik der greisen, verfilzten Männer in Bundesbern gewisses Unbehagen auslöst.
Zudem tönte es so, als könne jeder in den 200-köpfigen Rat einziehen, dem es so passt. Ich wies deshalb darauf hin, dass doch gerade die Ergatterung eines Parlamentssitzes nun Meriten genug sein müssten. Zwar ist es heute wohl schneller möglich, in den Rat einzuziehen – ein Kinderspiel ist es aber nun wirklich nicht. Man benötigt ein Netzwerk an Sympathisanten und Wählern, ein Unterstützungskomitee, eine solide Finanzierung – ansonsten kann man gleich wieder einpacken.
Einmal im Rat, wage ich zu behaupten, sind solche Jung-PolitikerInnen deutlich immuner gegen BestechungsLobbying-Versuche und verfolgen so eine ehrlichere, integre Politikals ihre Verwaltungsrat-Söihäfeli-Söidecheli-Kollegen. Aber ich mag mich täuschen …
Deshalb: Ich als 27-jähriger wünsche mir eine angemessenere Vertretung meiner Altersgruppe in der Politik. Ob Geld-Verschleuderer oder Exzess-Sparer ist mir eigentlich egal. Hauptsache, junge Leute bringen sich früher und mit mehr Nachdruck in die Politik ein, als sie es die letzten 159 Jahre getan haben.
Ob sie dabei peinliche Medienauftritte hinlegen und Wissenslücken aufweisen (ist das nicht auch näher am „normalen Bürger“ dran, Zgraggen?) ist mir eigentlich egal – Politik ist am Ende nicht Show, sondern Inhalte. Soll heissen, dass Ursula Wyss meine Stimme verdient hat, sobald Sie im Rat so abstimmt, wie ich das von ihr erwarte. Schliesslich heisst es ja auch „Volksvertreter“.