Montag, 1. Mai 2006
Rolf Schäuble, Präsident des Verwaltungsrat der Baloise-Holding (Arbeitgeber des frisch geschlüpften Bloggers Kollege Zgraggen), hatte an der Generalversammlung vom 28. April nicht nur Geschäftliches zu besprechen.
Die Hälfte seines Manuskripts befasst sich nicht etwa mit der uns allen bekannten Versicherung, sondern mit unserem geliebten und tollen Heimatland. Ihm scheint es – als Privatperson oder als Verwaltungsrat eines Versicherungskonzerns? – nicht sehr wohl hier. Er macht sich Sorgen. Um uns? Um sein Geschäft? Um seine Batzeli auf der Bank?
Für ihn krankt unser Land an allen Dingen, die Staatskritiker seit jeher herausposaunen. Als Ursachen unserer „Misere“ nennt er:
- Der helvetische Föderalismus
- Die öffentlichen Finanzen
- Den Steuern
- Liberalisierung des Binnenmarktes
- Zur Sozialpolitik
In etwa also alle Erungenschaften der letzten 150 Jahre. Vermutet haben wir es schon immer, dass früher alles besser war! Dank Schäuble wissen wir es nun endgültig.
Die Lösung auf all‘ unserer Probleme? Der allein selig machende Fahrplan ins Schlaraffenland? Dazu Schäuble:
- Kostensenkung und Effizienzsteigerung der Volkswirtschaft durch Entrümpelung der Struktur und Abschneiden der Sozialstaats-Hydra
- Senkung der Steuern und Vereinfachung des Steuersystems
- Drastische Entschuldung aller politischer Ebenen
- Liberalisierung des Marktes
- Förderung des Bildungs- und Forschungsstandortes Schweiz durch Bündelung der knappen Ressourcen
Bon. Natürlich hat er nicht nur Unrecht.
Was ich mich aber frage: Wieso wird es der Wirtschaft eigentlich immer erlaubt, die Klappe so weit aufzureissen? Dauernd haben die etwas zu nörgeln – zu hohe Steuern, generell ein wirtschaftsfeindliches Klima, na nie, na na, et cetera. Und wagt es der Staat einmal, der Wirtschaft dreinzureden, spricht man gleich von Fledderei. Das mag man dann gar nicht, das gibt umgehend etwas auf die Finger. Vielleicht sollte man sich zuerst einmal auf die gleiche Ebene begeben, bevor man zu diskutieren beginnt. Die Wirtschaft hat zu oft das Gefühl, dass sie über allem und jedem steht. Unsere neue Religion. Wirtschaft, Wachstum, Profit. Und alle sind sie happy.
Liebe Wirtschaftsbosse, Verwaltungsräte und vergoldete Manager: Ich verstehe durchaus, dass die Wirtschaft einen hohen Stellenwert hat. Vielleicht werdet ihr gar oft schlecht behandelt, geschröpft, geschlagen, um eure Gewinne gebracht. Auch das Fussvolk straft euch mit Unverständnis: Wieso wollen die Proleten partout nicht verstehen, wie jemand 24 Millionen pro Jahr verdienen kann? Dabei verdienen die in Amerika doch auch so viel. Ein guter Punkt! Wir Schweizer vergleichen uns ja in allen Belangen mit den Amis. Das sind unsere grosse Vorbilder. Hip-Hop, Vorstadt-Ghettos, deren schlagkräftige Armee, die fremden Kulturen ausnahmslos mit Respekt entgegentritt. Oder denkt nur an deren Präsident. Sogar ein Flugzeugträger würde knapp auf den Thunersee passen. Die Kampfflugzeuge haben wir jedenfalls vorsorglich bereits angeschafft. All das hätten wir doch so gerne auch hier, in unserer Schweiz. Mann, dann hätte die Wirtschaft Freude. Die würde uns einen Tag frei geben, so Freude hätte man in den Chefetagen. Einige von uns müssten auch am übernächsten Tag gar nicht mehr zur Arbeit erscheinen. Schliesslich steigt die Produktivität kontinuierlich, da sollte man in einem gesunden Rythmus mit dem Besen kehren gehen. Eine Verjüngung tut immer gut. Und schliesslich hat noch nie jemand wiederlegt, dass man mit 80% der Beschäftigten nicht 120% der Arbeit erledigen könnte.
Aber denkt daran: Im Gegensatz zu euch hat der Staat einen deutlich grösseren Aufgabenbereich als ihr. Der Staat hat sich nämlich um die Arbeitenden zu kümmern, sobald diese die geheiligten Werkstätten des stetig steigenden Profits verlassen. Wir mögen zwar ein Drittel unseres Alltages bei euch, erhabenen Unternehmern verbringen, zwei Drittel unserer Zeit aber leben wir im (vom?) Staat. Dort gelten dessen Gesetze, die nicht nur rein an Profit ausgerichtet sind. Dort geht es nicht nur darum, die Shareholder zufrieden zu stellen. Da muss Strom in die Hütte kommen, Strassen unterhalten, Umweltschäden verhindert, aber doch all zu oft nachträglich behoben werden. Nicht zuletzt, weil ihr Wirtschafts-Heinis jederzeit bereit seid, für Profit auch die Umwelt zu opfern. Denn kommt es zur Katastrophe, bezahlt ja bekanntlich nicht die Wirtschaft, sondern der Staat. Der stellt die Zivilschützer, die Armeeangehörigen, die Bagger, die dann aufräumen können, während ihr eure Batzeli zählt. Auch sonst: Von jemandem müssen ja die Züge, das Rollmaterial und die Trasses gewartet werden. Die Gesetze geschaffen, aber deren Einhaltung auch kontrolliert werden. Klar, könnte man alles privatisieren. Nur bin ich hoffentlich nicht der einzige, der sich vor einer total privatisierten Welt fürchten würde. Irgendwie kann ich, auch nach jahrelangem Herunterlaben des ewigen Mantras, nicht glauben, dass mir private, an Profit orientierte Unternehmen immer, jederzeit einen besseren Service bieten werden, wie er bisher von Staatsunternehmen geboten wird. Auch wenn wir Gesetze haben, die Vorschreiben, dass bis in jedes Bergkaff Glasfaser gezogen werden müssen. Und wenn es die Unternehmen nicht machen möchten? Zeigen sie uns die langen Nasen, und die Sache ist gegessen.
Vergesst nicht: Die Baloise mag alt sein. Noch älter ist aber der Bundesstaat, noch älter die Eidgenossenschaft, und sowieso unsere Gesellschaft. Wie sagt man so schön: Das Alter soll man Ehren. Wenn ihr mal dieses stattliche Alter erreicht habt, können wir wieder über besonders intelligente Einfälle sprechen. Aber bis es soweit ist, vergehen noch ein paar Jahrhunderte.
Ob die Baloise die Aufgaben des Staates übernehmen könnte? Mit dem tollen Verwaltungsrat und all den Wirtschaftsfachleuten sowieso, denkt ihr. Überschätzt euch lieber mal nicht … Versicherungen zu verkaufen ist das eine, einen Staat am Laufen zu halten etwas völlig anderes. Da sind schon viele auf die Welt gekommen.
Nachtrag – Repräsentation
Nicht zu vergessen: Ein Unternehmen – noch so global, noch so allumfassend – wird jemals von sich behaupten können, das Volk oder die Mehrheit davon zu vertreten, geschweige denn seine Interessen wahrzunehmen. Anders als im politischen System, wo wir Bürger immerhin noch ein klitzekleines Millimeterchen das Gefühl bekommen, dass wir (durch Wahlen und Abstimmungen) etwas verändern, bewegen, bewirken können, sind Unternehmen nicht demokratisch gewählte Gebilde. An der Spitze sitzen die feinen Herren, die „old-boys-networker“, die „Filzläuse“ – oft durch Leistung aufgestiegen, noch öfters durch andere Faktoren in die Chefetage gepurzelt (braune Zunge etc.). Wenn sie oben ankommen, hat der Grossteil dieser „Manager“ die Bodenhaftung verloren, wohnt in Zürich Herrliberg, fährt teure Autos, bezahlt in einem Jahr soviel Steuern, wie ich wohl in meinem ganzen Leben. Kurz: Von den Sorgen und Nöten eines Normalverdieners (ohne goldenen Fallschirm, Aktien-Optionen, selbst beim unrühmlichen Abgang) verstehen solche Leute gar rein nichts mehr. Sie sind in ihre Laufbahn in höhere Sphären vorgestossen, wo Steuerfuss, Mergers, Expansionen, Produktivitätssteigerungen und Restrukturierungen eine Rolle spielen.
Es nähme mich wirklich Wunder, wer sich besser vertreten fühlte: Der Angestellte eines Unternehmens durch das Management oder der Bürger einer Demokratie, insbesondere der schweizerischen direkt-demokratisch-föderalen Demokratie. Denn, eines bleibt: Ich als Arbeitnehmer kann gefeuert werden. Dass so etwas jemals einem (rechtschaffenen) Bürger eines westlichen Staats passiert ist? Nä, denke nicht.
Via: Basler gegen den Föderalismus