Sonntag, 24. April 2022, 12:48 Uhr

Die Welt sollte sich auf einen Versorgungsschock mit Grundnahrungsmitteln gefasst machen …

Für mich und die meisten hier ist Essen „einfach da“ — Brot und Milch kaufe ich im Coop, oder in der MIGROS, und seit Gedenken stand ich noch nie einem leeren Regal (ausser beim Änngelibeck in Bern, kurz vor Ladenschluss).

Im Gegensatz zu meinen Grosseltern und Eltern kenne ich keinen einzigen Preis für Grundnahrungsmittel und weiss deshalb auch nicht, wenn der Preis für Brot oder Milch aufschlägt (aus welchen Gründen auch immer).

Folgendes Gespräch hat mich wachgerüttelt — so wüst die humanitäre Katastrophe in der Ukraine selber aktuell ist, tun wir gut daran, wenn wir uns jetzt schon auf einen weltweiten Versorgungsschock an Grundnahrungsmitteln einstellen, welcher uns mindestens dieses wie auch nächstes Jahr begleiten wird:

Wenn wir reichen Schweizer Glück haben, bedeutet das für uns „nur“, dass wir in den nächsten ein-zwei Jahren mehr für Nahrung bezahlen müssen. Nicht schön, aber ertragbar, indem wir andere, aber nicht zwingende Ausgaben reduzieren. Ärmere Länder, die bereits jetzt immer knapp durchgekommen sind, wird es aber deutlich härter treffen. Resultate könnten Hungersnöte mit vielen Toten sein, aber auch Aufstände, und damit verbunden Massenmigration.

Viele hier hoffen auf einen „Regime-Change“ in Moskau, doch vermutlich werden wir zuerst Regime-Changes in anderen Ländern sehen.

Wieso diese Schwarzmalerei? Das Video erklärt es sehr gut: Die Ukraine und Russland gehören zu den grössten Nahrungsmittelproduzenten und -exporteuren der Welt. Der Wegfall von zehn Prozent bis zu einem Drittel der weltweiten Produktionsleistung kann am Planeten schlicht nicht spurlos vorüber gehen.

Der Krieg führt einerseits dazu, dass Sonnenblumen, Weizen, Gerste und Mais in der Ukraine entweder nicht angebaut werden, oder die Felder im Sommer/Herbst nicht geerntet werden können. Landwirtschaft ist ein zeitkritisches Geschäft, wo man mit der Anpflanzung oder der Ernte nicht beliebig zuwarten kann.

Andererseits wird sich wohl das mit Sanktionen belegte Russland zwei Mal überlegen, in welche Länder es seine eigene Nahrungsmittelproduktion liefert — falls es die Produkte nicht gleich mit einem Ausfuhrverbot belegt.

Zur kritischen Lage trägt indirekt auch Treibstoffmangel bei. Der ukrainische Grosslandwirt erklärt im Video, dass beispielsweise Diesel für die Traktoren entweder von der ukrainischen Armee konfisziert, oder aber vernichtet wurde, damit es den Russen nicht in die Hände fällt.

Weiter vermute ich (ohne Verifizierung!) auch andere Einflüsse: Maschinerie und Transportmittel fehlen dort wo sie eigentlich gebraucht werden, weil sie in Sicherheit gebracht wurden (Landwirtschaftsmaschinerie kostet unglaublich viel Geld), für anderes als Landwirtschaft eingesetzt werden (Abtransport russischer Panzer), oder sie könnten auch in Kämpfen zerstört oder beschädigt worden sein. Selbst wenn die Kriegshandlungen eingestellt werden, ist die Frage, ob und wie rasch man Ersatzteile für Reparaturen bekommen wird. Und: Ohne Maschinerie kann man keine industrielle Landwirtschaft betreiben — egal, wie viele Hände man als Ersatz aufbieten würde.

Schlussendlich erwähnt der Landwirt auch noch verminte Felder, und ich kann mir vorstellen, dass die Überfahrt von Panzern und sonstigem schweren Gerät über Felder nicht gut ist für den Untergrund. Oder wenn verlassenes oder zerstörtes Armeematerial wie Panzer und Haubitzen auf den Feldern liegenbleibt, welches dann erst geräumt werden muss (nicht ganz trivial, wenn noch scharfe Munition rumliegen sollte).

Dasselbe mit Getreidelagern mit der Ernte von 2020, sowie Saatgut: Im schlimmsten Kampfhandlungen zerstört, oder die Ware aus welchen Gründen auch immer verdorben, oder konfisziert und abtransportiert. Der Landwirt erwähnt sein eigenes Maislager im Kriegsgebiet, und dass er nicht wisse, wie es dem dort lagernden Mais ergeht. Ich denke etwas von 300’000 Tonnen gelagertem Mais gehört zu haben (eine fantastische Zahl, die man noch verifizieren müsste — tatsächlich: bei 17 Minuten und 30 Sekunden spricht der Landwirt die Zahl aus). Zur Einschätzung: die Ukraine hat 2020/21 ungefähr 29 Millionen Tonnen produziert.

Weiter man muss sich auch bewusst sein, dass sowohl (künstlicher) Dünger als auch Pestizide aus fossilen Brennstoffen (Gas) hergestellt werden — und einer der grössten Gas-Produzenten führt derzeit eine „Spezialoperation“ in der Ukraine durch.

Einschub: Wie sich das bei mir anekdotisch bemerkbar macht? Im Februar 2013 habe ich meinen zweiten Aktienkauf in meinem Leben getätigt, mit ganz, ganz wenig Spielgeld. Ich habe mir damals auf Grund eines Blog-Artikels Potash-Aktien gekauft (ein Kanadisches Unternehmen, welches „Pottasche“ abbaut, sprich das „Kaliumkarbonat“ im NPK-Düngertriumvirat). Der Aktienpreis stürzte in der Folge ab, aber ich entschied mich, die wenigen Aktien zu halten. Das Unternehmen wurde irgendwann einmal von Nutrien aufgekauft, und ich erhielt dafür Nutrien-Aktien. Und jetzt endlich, 9 Jahre später, bin ich so nah wie noch nie am Break Even: Meine Aktien dümpeln „nur“ noch 11.92 Prozent unter dem Einstandspreis, nachdem sie seit Februar 2022 (war da was?) eine unglaubliche Rally hingelegt haben.

Wieso ein ITler sich um solche Dinge kümmert? Der Titel meines Lizentiats lautete Die Missernte 1916/17 in der Schweiz. «Wenn nur der Wettergott bald ein Einsehen hätte» (Download als PDF hier).

Und da wären wir auch schon im letzten Punkt: Auch die Ungläubigsten unter uns sollten ab und zu beten, dass die Landwirte dieses Jahr nicht auch noch von schlechtem Wetter oder Witterung getroffen werden. Sonst nähern wir uns einem perfekten Sturm.

Zum Schluss: Cui Bono? Neben der Fracking-Industrie und den Waffenproduzenten wird dieser Konflikt auch sehr positive Ertragsauswirkungen auf die U.S.-Landwirtschaft haben.

Nachtrag

Die Witterung scheint uns nicht gut gesinnt:

Südasien wird derzeit von einer aussergewöhnlichen Hitzewelle heimgesucht. Sie bedroht die Ernten vieler Bauern. Indien ist der zweitgrösste Weizenproduzent der Welt. Die durch den Ukraine-Krieg angespannte Situation auf den Agrarmärkten dürfte sich damit noch verschärfen.

Quelle: Weizenproduktion: Hitzewelle in Indien verschärft weltweite Versorgungslage

Nachtrag 2

Wie bereits vom ukrainischen Landwirten angetönt und von uns allen befürchtet, haben die Kriegsparteien in der Ukraine offenbar landwirtschaftliche Felder (oder: Zugangswege dazu) vermint:

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Labels: Essen, Wirtschaft

2 Kommentare Kommentare

Mark sagt:

Dein „Cui Bono“ ist ein falscher Schluss. Der Krieg geht immer noch von Russland aus, die Ukraine verteidigt sich immer noch selber. Russland bombadiert zivile Einrichtungen usw.

Wenn im 2. WK der Reduit-Plan umgesetzt worden wäre, dann wären die USA Schuld, dass Schweizer Bauern nicht arbeiten können? Oder doch eher Deutschland, die dann die Schweiz eingenommen hätten?

Also, das jetzt hier auf Anti-US-Ressentiments zu ziehen ist doch etwas seeeeehr weit her geholt.

Mario Aeby sagt:

… falls du Recht hättest, müsste meine Feststellung sehr einfach mit wirtschaftlichen Fakten widerlegbar sein.

Zur Information:

„Die Frage Cui bono? (lateinisch für „Wem zum Vorteil?“) […] ist ein geflügeltes Wort, mit dem die Frage nach dem Nutznießer bestimmter Ereignisse oder Handlungen […] gestellt wird.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Cui_bono

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