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Sonntag, 24. Januar 2016

Zur Durchsetzungsinitiative vom 28. Februar 2016

Nach langer Zeit habe ich wieder einmal die Musse gefunden und sehe ein Bedürfnis, mich über die politischen Entwicklungen im Land zu äussern.

Es geht um die Durchsetzungsinititative der SVP, in Online-Foren und Social Media gerne auch „DSI“ genannt. Ganz offiziell heisst die Vorlage „Eidgenössische Volksinitiative ‚Zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative).'“

Da meine Ehefrau derzeit nur den US-Pass besitzt, wäre ich als Ehemann einer hier lebenden Ausländerin indirekt von einem solchen Gesetz betroffen. Ich persönlich hätte nichts zu befürchten, meine Frau schon — so lange sie nicht eingebürgert ist. Kann es sein, dass Stephanie nach einer möglichen Götterdämmerung am 28. Februar 2016 wegen eines Vergehens des Landes verwiesen würde, was zwangsläufig unsere Beziehung erschüttern und unsere Lebensplanung auf den Kopf stellen könnte?

Um mir meine Meinung zu bilden, habe ich mir zuerst einmal den Initiativtext angeschaut (ein 40-Tönner unter den Verfassungsartikeln, fabriziert in der Küche der sonst so „liberalen“ SVP, die gemäss Parteibuch auf weniger Regulierung, somit auf einen überblickbaren Gesetzes- und Paragraphendschungel und die freie Entfaltung in wirtschaftlicher Sicht setzt).

Kernstück der Initiative ist die Liste der Straftatbestände, die unter I. Landesverweisung automatisch zu einer Landesverweisung führen.

Relevanz der Vergehen für (zumeist) rechtschaffene Einwohner

Den heutigen Sonntag-Morgen habe ich genutzt, um den Text mit meiner Frau durchzugehen und um mit ihr ein Verständnis aufzubauen, wie sich unser Leben nach dem 28. Februar 2016 dank den Vorstellungen der SVP und dem Willen von fremdenfeindlichen Abstimmenden ändern könnte.

Zur Entwarnung: Die meisten Punkte in Abschnitt 1 betreffen extrem schwere Delikte, die Leib und Leben bedrohen. Wir konnten uns mit diesen Punkten nicht identifizieren und haben auch keinen Anlass anzunehmen, dass sie für uns mal relevant werden würden.

Da wir beide selber keinen juristischen Hintergrund aufweisen, erschliessen sich uns die gängigen Bezeichnungen („qualifizierter Diebstahl“, anyone?) und Interpretationen („Lehrmeinungen“) der Juristerei zu einzelnen Punkten nicht. Wir können also nicht abschliessend sagen, dass wir von den meisten Punkten definitiv nicht berührt werden würden. Und das denke ich ist das Hauptproblem für den Stimmbürger, welcher nicht blindlings Hirte Blocher und den anderen SVP-Schäfchen folgen, sondern seinen Verstand gebrauchen will und sich selbst eine Meinung zur Initiative macht.

In die Liste der Vergehen haben sich mindestens drei Punkte eingeschlichen, die wir näher diskutiert haben und bei uns Fragezeichen hinterlassen haben:

  • a. vorsätzliche Tötung (Art. 111 des Strafgesetzbuch StGB), Mord (Art. 112 StGB), Totschlag (Art. 113 StGB) sowie b. schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB), Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) Wir sind keine Schläger und schon gar keine Mörder (wobei: was noch nicht ist, kann noch werden — Spass beiseite). Was aber, wenn meine Frau aus Unachtsamkeit mit übersetzter Geschwindigkeit durch ein Dorf fährt, ein Schulkind überfährt und dieses entweder stirbt oder schwer verletzt wird? Läuft das unter Totschlag, vorsätzlicher Tötung oder schwerer Körperverletzung, weil sie dies durch die überhöhte Geschwindigkeit in Kauf genommen hat (à la Raserparagraph und seiner Auslegung)?
  • e. Betrug (Art. 146 StGB) im Bereich der Sozialhilfe und der Sozialversicherungen sowie Sozialmissbrauch (Ziff. V.1) Wir sind in der glücklichen Lage und froh, dass wir als Doppelverdiener mit Universitätsabschlüssen und Vollzeitanstellungen nicht von Sozialhilfe abhängig sind. Das Beispiel des ausländischen Arztes, der für seinen in auf Weltreise weilenden Studentensohn weiterhin Ausbildungszulagen kassiert, hat mich aber aufgeschreckt: Könnte uns irgendwann auch aus Unachtsamkeit ein solcher „Sozialversicherungsbetrug“ angelastet werden (Sozialversicherungsbetrug ist in unserer Situation wahrscheinlicher als Sozialhilfebetrug)? Würde der Betrug in dem Fall auf mich oder gar auf meine Frau zurückfallen? Wir wissen es nicht. Was ich aber weiss: Sollte die SVP-Initative am 28. Februar 2016 angenommen werden, wird meine Frau nicht mit Sozialversicherungsformularen in Kontakt kommen, ausser wenn das zwingend nötig werden würde und nicht vermeidbar wäre. Rein als Vorsichtsmassnahme.
  • i. Widerhandlung gegen Artikel 19 Absatz 2 oder 20 Absatz 2 des Betäubungsmittelgesetzes vom 3. Oktober 1951 Für uns war anfänglich nicht klar, ob der Drogenkonsum auch zu einem Ausweisungsgrund zählen konnte (was auch immer darunter fällt). Nicht, dass wir Cannabis und sonstige Modedrogen einwerfen — aber geraucht, und selbstverständlich nicht inhaliert hat ja jeder schon mal. Oder was ist, wenn meine Frau aus den USA nicht-rezeptpflichtige Medikamente zum Eigenkonsum in die Schweiz einführt, welche in der Schweiz rezeptpflichtig sind? Verstehe ich den Gesetzestext korrekt, fallen solche Aktivitäten nicht darunter — die Absätze richten sich primär an Drogenhändler, die so ihren Lebensunterhalt verdienen (ich persönlich denke, dass wir solchen Personen eine Umschulung bezahlen sollten — es gibt auch hierzulande Berufe, die grenzwertig illegal sind, mit hohen Geldbeträgen umgehen und den persönlichen Risikoeinsatz mit variablen Lohnbestandteilen vergüten — und von der Gesellschaft, wie auch von der SVP, hingegen hoch angesehen sind).

Unser Fazit war, dass viele der Vergehen es auch aus unserer Sicht rechtfertigen, diese mit dem automatischen Landesverweis zu ahnden. Verwundert hat uns aber, dass Sozialversicherungsbetrug mit Mord und Totschlag gleichgestellt wird, ebenso dem nachgehen einer vom „Markt“ nachgefragten Beschäftigung (Drogenhandel). Letzteres nicht zuletzt dank der strikten Law & Order-Politik der Zigarren rauchenden, Bier, Wein und Schnapps konsumierenden Konservativen, welche den jüngeren Generationen anderweitige, abhängig machende Genussmittel verwehren wollen. Selbst Jünger Köppel hat ja unter SVP-Parlamentariern Suchtverhalten nachgewiesen.

Auch der Automatismus gefällt uns nicht. Das der SVP abgehende Vertrauen in unsere Richter ist bei uns noch mehrheitlich intakt (mit einigen Ausnahmen). Wir finden, dass Richter jeden Einzelfall prüfen müssen und den Schweregrad des Vergehens auf Grund von allen vorhandenen Faktoren frei, d.h. ohne SVP-Messer an der Gurgel, beurteilen können sollten.

Folgende Fragen wären von den Richtern zu beantworten und in das Urteil einfliessen zu lassen: Wie lange lebt die Person bereits in der Schweiz? Ist sie integriert? Geht sie einer Erwerbstätigkeit nach? Zahlt sie die Steuern prompt? Hat sie Schulden? Handelt es sich um ein Elternteil? Wie rechtschaffen ist die Person? Wie viele „Vergehen“ hat die Person während ihres bisherigen Aufenthaltes in der Schweiz begangen? „Mildernde Umstände“ aus den Antworten auf diese Fragen wäre bei der Annahme der Initiative aus unserer Sicht nicht mehr möglich, so sehr SVP-Hirnis uns dies in der Tonspur zum schwarz-auf-weiss gedruckten Initativtext weis machen wollen.

Missbrauch zur Ausländerschikane?

Schlussendlich noch dies: Was hält einen selbst ernannten „Eidgenossen“ davon ab, einen missliebigen Ausländer anzuschwärzen? Ich glaube da sind teilweise noch viele Rechnungen offen, die man nach Annahme der Initiative „lösen“ könnte. Oder den Fremden zumindest massive Steine in den Weg legen kann. Wer stellt sicher, dass mit der DSI dann nicht Unfug gegen alles und jeden Fremden betrieben wird?

Hält ein solches Gesetz kriminelle Ausländer von etwas ab?

Die Hauptfrage bleibt aber: Da wird also ein mordender und raubender Ausländer des Landes verwiesen. Schön und recht. Gerade die SVP-Vasallen, welche die Classe Politique sowie den Etatismus und die bedingungslose Staatsgläubigkeit immer verurteilen, sollten sich bewusst sein, dass ein dämlicher Landesverweis niemanden mit solch unlauteren Absichten vor der Rückreise in die Schweiz abhalten wird. Wir reden hier von kaltblütigen Mördern, Vergewaltigern, Menschenhändlern, Räubern, Dieben und Drogenhändlern! Denen ist ein Landesverweis so was von scheissegal.

Ich helfe wetten, dass diese wiederkommen, SVP Verfassungstext hin oder her (kaum einer dieser Gestalten wird sowohl die SVP als auch die Schweizerische Bundesverfassung kennen). Entweder man bringt ihnen also lebenslang Fussfesseln an, oder macht sich auf Rückkehrer gefasst — und die Empörung der SVP-Xenophoben, welche dann ihrem Irrglauben fröhnen, mit noch radikaleren Gesetzestexten irgendwie physische Grenzzäune bauen zu können.

Auf gewisse Weise ist es ja verständlich: Auch die SVP muss schauen, dass ihr die Wahlkampfschlagerthemen in den nächsten fünfzig Jahren nicht ausgehen. Die „Endlösung der Ausländerfrage“ wäre schlecht für’s Geschäft. In etwa so schlecht wie die Pharmariesen statt Medikamente zur Krebsbehandlung plötzlich Vorsorge zur Verhinderung von Krebs verkaufen würden. (Link auf eine zwiespältige Seite, bitte Quellenkritik nicht vergessen)

Merke: Auch die SVP kann über Nacht zu einem Klüngel von Etatisten werden, welche einen uneingeschränkten Glauben in Gesetze zur Regulierung des Zusammenlebens haben. Jedenfalls dann, wenn es um ihr Steckenpferd, die pöhsen, pöhsen Ausländer geht.

Fragwürdige Argumente meiner Genossen

So sehr ich im Geiste gegen diese Initiative bin, so sehr vermasselt es meiner Meinung nach die Linke mit ihren Argumenten. Ich finde es löblich, dass die Linke geschlossen auftritt und das Anliegen lautstark bekämpft. Doch wie sie das tut ist meiner Meinung nach höchst fragwürdig.

Zwei Punkte regen mich besonders auf:

  • Negativbeispiele, bei welchen sich die meisten Stimmbürger nicht wiederfinden
  • Secondo-Tränendrüse

Negativbeispiele

Man lese sich die Beispiele in folgenden Artikeln durch:

Ist ja gut und recht. Aber in vielen Fällen ist ein klarer Vorsatz zu entdecken, teilweise mit mehreren in Serie geschalteten verdammt dummen Vergehen:

Der Lehrling betrinkt sich zur bestandenen Abschlussfeier (soweit kann ich folgen), bricht dann aber in den Lehrbetrieb ein, beschädigt Maschinen und hinterlässt seine Urinmarke. Was zum Teufel? Und mit solch einem Deppen sollen wir Mitleid haben und am 28. Februar 2016 ein Nein in die Urne legen?

Beamtenbeleidigung — auch mit solchen Leuten habe ich kein Mitleid. Wer gegenüber Sicherheitspersonal ausfällig wird hat offenbar nicht realisiert, dass man hierzulande daraus noch nie einen Vorteil herausschlagen konnte, und auch nie herausschlagen können wird.

Oder der Arzt, mit Universitätsstudium und einem Bombenlohn, der sich aus purer Faulheit nicht mit den Reglementen zur Ausbildungszulagen auseinandersetzen will und so in die Fänge der Justiz gerät?

Der den Steuerauszug fälschende Finanzanalyst — wieder so ein Lümmel, dem ich keine Träne nachweinen würde. Mit solchen Löhnen und einem solchen Ausbildungsniveau muss man selten blöd sein, die Steuererklärung absichtlich falsch auszufüllen.

Liebe Genosse, setzen wir uns neuerdings wirklich für ausländische Assistenzärzte und Finanzanalüsten ein, die Kraft ihrer Ausbildung und Vermögenslage in der Lage sein sollten, hierzulande ein höchst gesetzeskonformes Leben zu führen? Hat’s euch in den Weizen geschneit?

Secondos

Auch die Behauptung, dass ab dem 28. Februar 2016 auch Secondos ausgeschafft werden müssten und die Initiative deshalb abzulehnen ist, lasse ich nicht gelten. Wann sind Secondos Ausländer? Wenn sie trotz Jahrzehnten in der Schweiz lebend immer noch keinen Schweizerpass beantragt haben. Wie kriegt man das bitteschön hin? Wenn ich hier geboren bin und meine gesamte schulische und berufliche Laufbahn in der Schweiz absolviert habe, ist es doch nur noch ein Fingerschnippen, um den Pass zu beantragen.

Schuljahre zählen für eine Einbürgerung doppelt; d.h. jemand, der sogar erst als achtjähriger in die Schweiz gekommen ist, hat noch vor Ende der Schulzeit mit 14 Jahren das Anrecht, den Schweizer Pass zu beantragen. Ja, die Eltern müssen als Vormund mitspielen und bezahlen — notabene einen für Unmündige deutlich reduzierten Preis (aus meiner Sicht ein Schnäppchen, umso mehr, je mehr Ausländerinitiativen die SVP lanciert). Ich hätte noch nie Eltern gesehen, die das rote Büchlein für ihre Kinder nicht beantragen wollten.

Abgesehen davon: Es ist ja nicht so, als wäre die SVP seit gestern Samstag fremdenfeindlich aktiv. Wer die zunehmende Xenophobie nicht hat kommen sehen und keine Vorkehrungen zu seinem Schutz treffen wollte, hat offenbar seit der EWR-Abstimmung in den frühen 1990er Tomaten auf den Augen …

Was kommt nach der DSI?

Wobei man offenbar nicht einmal mehr als Eingebürgerter sicher sein kann, wenn sogar die Franzosen nicht mehr vor der Aberkennung einer einmal erlangten Staatsbürgerschaft halt zu machen scheinen — einem der Geburtsorte der modernen Menschenrechte, notabene.

Ich behaupte: Es wird nicht lange gehen, und die SVP lanciert eine Initiative zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft von Kriminellen.

Im Bewusstsein dieser Fremdenfeindlichkeit gehört sich nur eins: Am 28. Februar 2016 wird ein Nein in die Urne gelegt.

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Labels: Politik, Schweiz

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