Dienstag, 28. Juli 2020
Es ist Sonntag-Morgen, ich bin gerade aufgestanden und widme mich beim Morgenkaffee am Küchentisch dem Bund (digital, auf dem iPad — rückblickend eine göttliche Fügung, dass ich das Jahres-Digitalabo im Dezember 2019 bei microspot für lächerliche 100 Franken gekauft habe). Und muss zur Verwunderung meiner Frau sofort laut herauslachen, als ich die Schlagzeile auf der Titelseite der iPad-App lese:
Lockdown eine Woche später hätte über 6000 Opfer mehr gefordert
Laut einer Modellrechnung der Uni Bern wären rund 1600 Leben gerettet worden, hätte der Bundesrat die Schweiz sieben Tage früher stillgelegt. Eine Woche später und die Spitäler wären überlastet gewesen.
Quelle: Lockdown eine Woche später hätte über 6000 Opfer mehr gefordert
Der reisserische Titel löst in mir ein gutmütig, bernisch-langsames „Iuuuuuu …“ aus. „Aber klar doch!“ sagt mir meine innere Stimme. Herr Neher hat bereits am 29. März „modelliert“, was das Zeug hält. Jetzt drängelt also Herr Althaus auch noch aufs Parkett und macht nettes „curve fitting“. Schön. Das Image der Epidemiologie und Infektiologie hat seit Beginn dieser ganzen „Pandemie“ — jedenfalls bei mir — genau wegen solchen Koryphäen, die über die Medien ex-ante oder ex-post „todsichere“ Aussagen verkünden, massiv gelitten.
Vermutlich bin ich nun endgültig „em Tüfu abem Charre gheit“, verrate meine Alma Mater mitsamt meiner Ausbildung, und schliesse mich bald den Flat Earthern (nope, der Flug zum Mond war einer der grössten Meilensteine der Menschheit), 5G-Gegnern (nope, ich kann es kaum erwarten, 4K Videos ruckelfrei zu streamen) und Globuli-Essern und Impfgegnern an (nope, Chemie hilft oft, und wenn ich je Kinder haben werde, werden diese gegen die schrecklichsten Krankheiten geimpft — Corona gehört nicht dazu).
Der Artikel wies zu dem Zeitpunkt nur einige wenige Kommentare auf — ich war mir deshalb völlig unsicher, ob ich der einzige Leser bin, der ab solcher „Wissenschaft“ die Augen verdreht (wobei man ja immer aufpassen muss, was die Wissenschaftler effektiv und wie genau gesagt haben, und wo die Journalisten der Schöpfung noch „Hand angelegt“ haben).
Am späteren Nachmittag dann war es Zeit, die Popcorn-Tüte hervorzunehmen und sich genüsslich durch die Kommentare zu lesen. Wie in diesen Zeiten so üblich bekriegen sich die zwei Lager in den Kommentarspalten — die „Reiter der Apokalypse“ und die „Schüchi Frag: Könnte es sein, dass wir leicht überreagiert haben?“-Verfechter. Heute Montag zählt der Artikel 167 Kommentare — wer die Ergüsse noch nicht gelesen hat, sollte das schleunigst nachholen.
Wenn ich eines weiss, dann dies: Bei der nächsten Pandemie (die dann hoffentlich ihren Namen auch wirklich verdient) werde ich Berechnungen und Fieberkurven bewusst ignorieren. Es ist wie mit der Bibel: Man muss wirklich, wirklich fest daran glauben. Und selbst dann könnte es sein, dass sich die Prognosen eben dann doch nicht wie gewünscht materialisieren. Aber dann lag nicht etwa die Bibel daneben, sondern man hat einfach zu wenig fest geglaubt.
Nur noch dies:
- Die Meteorologie kann das Wetter (ein chaotisches System, im Vergleich zu einem komplett berechenbaren Virus) auf etwa sieben Tage hinaus sicher voraussagen. Neher und Althaus hingegen wollen auf den Tausender (Hunderter?) genau sagen können, was passieren wird, respektive was passiert wäre.
- Sind Althaus als auch Neher wirklich solche Cracks, sollten sie mit ihren Modellierfähigkeiten vielleicht besser Aktienkurse voraussagen. Ich würde es ihnen wirklich gönnen, wenn sie sich als frischgebackene Milliardäre innert Wochenfrist frühpensionieren lassen könnten. Damit hätten sie auch gleich den Beweis geliefert, dass ihre theoretischen Anwendungen auch in der Praxis bestehen.