Archiv 17. Dezember 2007

Montag, 17. Dezember 2007

Bundesrat zurück beim Mittelmass

Normalerweise gehört ja das Zitieren ganzer Artikel nicht zum guten Ton, doch da der Text bereits drüben beim Auswandererblog erschienen ist, lasse ich es mir nicht nehmen, den Text zwecks Archivierung hier ebenfalls wiederzugeben:

[…] An diese Episode aus der Zürcher Geschichte sei erinnert, weil diese Woche auch Christoph Blocher eine – wenn auch nur symbolische – Dekapitation erfuhr. Der Zürcher Bundesrat bietet, wie der Zürcher Bürgermeister vor gut 500 Jahren, Anschauungsmaterial für den in der Geschichte gut dokumentierten Reflex der Schweiz, zu dominante Figuren zurückzustufen.

Zurück auf was? Die Apologeten Blochers werden verächtlich sagen: auf das helvetische Mittelmass. Das mag zutreffend sein. Aber dieser Begriff, der – nicht ohne Grund – immer wieder lächerlich gemacht wird, verweist auf ein Axiom, auf dem dieser Staat beruht. Die Schweiz ist nämlich in ihrem Kern eine Gemeinschaft gleichberechtigter und gleichwertiger Bürger; diese haben sich in einem souveränen Akt zusammengeschlossen, um die Umstände, die für ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt notwendig sind, zu regeln. Die Schweiz ist nicht das Werk eines Einzelnen; sie ist vielmehr gerade im Widerstand gegen die Machtanmassung eines Einzelnen, des Landvogts Gessler, entstanden.

Voraussetzung, um Freiheit und Sicherheit gemeinsam zu garantieren, sind Machtausgleich und Machtverzicht. Sensibel reagierte die Schweiz deshalb seit 1291, wenn diese Balance gestört wird, sei es, dass sich ein Teil des Landes zu stark an einen auswärtigen Staat anlehnte, sei es, dass ein Einzelner zu viel Macht an sich riss. Dann erfolgt jeweils die Korrektur hin zum «mittleren Mass». Ohne diese Richtschnur wäre die Schweiz längst zerfallen.

Offenbar hat Blocher das Schicksal von Hans Waldmann nie studiert, obwohl er sich gerne am Zürcher Zunftleben beteiligt. Offenbar kennt er diese Konstituante der Schweiz nicht, oder aber er war immer weniger in der Lage, sein Handeln aus dem Wissen heraus zu gestalten: Je mächtiger in der Schweiz jemand ist, desto bescheidener soll er auftreten, desto stärker sich um den Ausgleich mit den andern bemühen. Dass dies immer weniger gelang, besiegelte sowohl das Schicksal des Bürgermeisters im Jahre 1489 wie das des Bundesrats 2007. Im Fall von Blocher ist das besonders erstaunlich: Er – der sich als Verfechter des Schweizerischen schlechthin versteht und als bester Exeget der «Suisse profonde» – scheint nicht realisiert zu haben, wie sehr er sich in die falsche Richtung bewegte.

Da formte sich zunehmend ein eigentlicher Hofstaat heraus, mit einem Schloss, einer Villa, mit gesellschaftlich glanzvollen Auftritten, mit Hofnarren und Propagandisten und mit einem sich ausweitenden journalistischen Hofschranzentum («Weltwoche», Teleblocher). Daraus resultierte ein wachsender Personenkult, der in den letzten Wahlen dazu führte, dass die Person Blocher zum Programm der SVP wurde. Da schlich sich in die Rhetorik immer offensichtlicher eine messianische Färbung: Blocher müsse die Schweiz retten, schrieben seine Jünger, er habe einen Auftrag von einer höheren Instanz erhalten, den er zu erfüllen habe. All dies verstärkte die Versuchungen zur Machtüberschreitung, führte zur Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen, was eine zentrale, in einem langen geschichtlichen Prozess errungene Grundqualität dieses Landes gefährdete: die Achtung vor Andersdenkenden und die Toleranz im Umgang mit Minderheiten.

Als vor vier Jahren die Bundesversammlung Christoph Blocher in die Landesregierung wählte, geschah dies aus Respekt vor seiner Tatkraft und aus dem Wissen heraus, dass alle relevanten Kräfte des Landes in die Regierung einzubinden sind, wenn der Machtausgleich funktionieren soll, der allein das Land als Ganzes weiterbringt. Umgekehrt erwartete das Parlament aber auch von Christoph Blocher einen Schritt auf die andern zu.

Dieser machte jedoch in Worten und Taten bald einmal klar, dass er sich nicht wirklich integrieren lassen wolle. Weil der Wahlkörper daraus unweigerlich die Folgerung ziehen musste, einem Grundlagenirrtum erlegen zu sein, schritt Christoph Blocher sehenden Auges in das Debakel, das ihn dann am Mittwoch ereilte.

Quelle: NZZ am Sonntag, 16. Dezember 2007, „Die Schweiz ist nicht das Werk eines Einzelnen, sondern aller“.

Dieser Text hilft mit, die Geschehnisse zu erläutern – bei unzähligen Bürgern machte sich Erleichterung breit, als Widmer-Schlumpf am Donnerstag die Wahl zur neuen Bundesrätin annahm. Doch den Angriffen der „Blocher-Apologeten“, die Blochers Verdienste in den Vordergrund stellten und zudem 30% der „Bevölkerung“ übergangen sahen, konnte mehr schlecht als recht standhalten. Was wollte man gegen die Anschuldigungen der Verlierer sagen? Im Innersten wusste man, dass der Entscheid richtig war, nur begründen könnte man ihn nicht.

Felix E. Müller erschliesst unseren Gehirnen, was dem Bauch aus Alltagserfahrungen längst bekannt ist: Könnten wir Schweizer Bundesräte wählen, so wären dies allesamt Roger Federers. Erfolgreich, äusserst leistungsfähig, reich – doch im persönlichen Umgang ruhig, gefasst, bescheiden, gar etwas schüchtern.

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Montag, 17. Dezember 2007

Die Juristerei und die Satzzeichen

The situation was even worse in the law, where a long English tradition held that punctuation marks were not actually part of statutes (and, therefore, courts could not consider punctuation when interpreting them). Not surprisingly, lawmakers took a devil-may-care approach to punctuation. Often, the whole business of punctuation was left to the discretion of scriveners, who liked to show their chops by inserting as many varied marks as possible.

Quelle: Clause and Effect

Deshalb sollte man die Verfassungs- und Gesetzestexte alle paar Jahrzehnte wieder neu schreiben. Juristen können so gleich doppelt beschäftigt werden: Einerseits beim Ausarbeiten der neuen Texte, andererseits bei der Interpretation dieser.

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Montag, 17. Dezember 2007

Wieso Evelyn Widmer-Schlumpf eine Linke ist

Die Abwahl Blochers hat Smythes Blog aus dem Dornröschenschlaf geweckt – wunderbar, da läuft endlich wieder was! Während der zweite Artikel („Samuel Schmid ist der Sündenbock“) bereits von kritischen Gesinnungsgenossen durchdiskutiert wurde, fehlt ein etwas ausführlicher Kommentar zu einem der genannten Punkte im ersten der beiden Artikel. Hiermit sei er nachgereicht:

Eveline Widmer-Schlumpf ist eine stramm bürgerliche Politikerin.

Um diese Aussage zu widerlegen, muss man sich gar nicht erst die Mühe machen, ihr bisheriges politisches Wirken als Bündner Regierungsrätin unter die Lupe zu nehmen. Sie allein aufgrund ihres Aussehens als Linke zu bezeichnen, wäre hingegen ein wenig gemein (wenn auch nicht völlig abwegig…). Den Hinweis darauf, dass es wissenschaftlich erwiesen ist, dass Frauen durchs Band im Schnitt weiter links politisieren als Männer, könnte man als antifeministisch abtun. Entscheidend ist denn auch etwas ganz anderes: Diese Frau hat die wichtigste Rolle in der politischen Intrige gespielt, welche zur Abwahl des stramm bürgerlichen (sic!) Bundesrats Blocher geführt hat. Sie hat damit der Wahlverliererin SP dazu verholfen, ja es ihr überhaupt erst ermöglicht, ihr allergrösstes Ziel (ein Ziel, auf welchem praktisch der gesamte linke Wahlkampf überhaupt basierte) zu erreichen. Dies stellt einen hochgradig politischen Akt Widmer-Schlumpfs dar. Ein Akt, welcher sie für den Rest ihres politischen Lebens vor jedem vernünftigen Bürgerlichen in Erklärungsnotstand bringen muss.

Quelle: Drei salonfähige Unwahrheiten zur Blocher-Abwahl

Kurzzusammenfassung

Herleitung, wieso Widmer-Schlumpf eine Linke ist:

  • Abstimmungsverhalten und als Regierungsrätin realisierte Geschäfte spielen keine Rolle und sind auszublenden.
  • Widmer-Schlumpf sieht wie eine Linke aus, und ist deshalb auch eine. Smythe distanziert sich von dieser Aussage, s. Kommentar.
  • Frauen politisieren „linker“. Ist Widmer-Schlumpf eine Frau oder nicht? Also.
  • Widmer-Schlumpf hat sich mit SP, CVP und Grünen verbündet. Das tun nur Linke. (Was übrigens auch CVP-Parlamentarier schlagartig zu Linken macht, die gegen Blocher gestimmt haben – kontrovers, nicht wahr?)

Erkenntnisbringende Methodik

Ich bin immer noch der Meinung, dass man Politiker einzig und allein an ihrem Abstimmungsverhalten zu Sachfragen beurteilen sollte. Dies ist die einzig quantifizierbare (und somit vergleichbare) Messgrösse in diesem Feld. Pseudo-populäre Aussagen, die kurz nach einem emotionalen Ereignis wie der Abwahl von Bundesrat Christoph Blocher gemacht werden, sind oftmals irreführend (auch bei mir *zwinker*).

Überall schwarze Schafe in der SVP!

Aber wenn wir gerade dabei sind: Widmer-Schlumpf ist langjähriges Mitglied der SVP. Was ist das für eine bürgerliche Partei, die „Linke“ jahrzehntelang unter ihrem Namen und in ihren Reihen politisieren lässt? Und dies sogar als Regierungsrätin? Ungestraft? Da hat anscheinend die SVP zuerst einmal intern akuten Handlungsbedarf.

Fehler der Bünderin …

Dass Widmer-Schlumpf sich nicht sofort aus dem Spiel genommen hat, als sie Hämmerle als mögliche Sprengkandidatin angefragt hat, bringt Widmer-Schlumpf tatsächlich in Erklärungsnotstand. Als (kleine) Entlastung lässt sich aber sagen, dass überhaupt nicht klar war, dass sie reelle Chance auf eine Wahl hatte.

Was stramme SVPler als unverzeihbare Aktion einer der ihrigen erkennen, ist für andere ein selbstbewusstes Auftreten eines fähigen und angesehenen Parteimitglieds aus der Peripherie gegen den Allmachtsanspruch der zürcherischen Führungselite. Könnte dies aus einem anderen Blickwinkel betrachtet nicht gar eine eigentlich gern gesehen Eigenschaft des exemplarischen SVP-Parteigängers sein?

Wenn die SVP so sehr Wert darauf legt, dass die Gemeindeversammlungen selbst (und nicht etwa der Kanton oder das Bundesgericht) über Einbürgerungen bestimmen können, wieso möchten es Zürcher den Bündnern übel nehmen, wenn diese selbst über die Annahme einer Wahl entscheiden?

… und die Widergutmachung!

Als sie hingegen tatsächlich gewählt wurde, hat sie durchaus im Interesse der Partei gehandelt: Hätte sie die Wahl abgelehnt, hätten die Verschwörer (meiner bescheidenen Meinung nach) den CVPler Schwaller in den Bundesrat gewählt. Es wäre äusserst vermessen anzunehmen, dass Blocher in einer solchen Situation wie durch ein Wunder doch noch gewählt worden wäre.

Denkfehler Smythes

Hypothese (von mir in Worte gefasst): Die SVP ist eine zutiefst homogene Partei. Wer SVP wählt, wählt automatisch Blocher. Nur was Blocher tut, ist bürgerlich. Wer gegen Blocher ist, ist folglich auch nicht bürgerlich.

Falsch! Widmer-Schlumpfs Aktion ist eine differenzierte Wahrnehmung der SVP – eine Wahrnehmung, die man schon verloren geglaubt hat. Die SVP ist geschichtlich gesehen eine aus verschiedenen Kantonalparteien zusammengesetztes Gebilde – während die Berner SVP seit Menschengedenken die Regierungspartei war, war die Zürcher Sektion lange Zeit die Opposition zur dort vorherrschende FDP. Das ist kein Sonderfall: Genau so sind welsche Liberale nicht deckungsgleich mit ihren Zürcherischen Pendants. Auch in der SP haben wir einen Daguet und eine Sommaruga vereint – na und?

Widmer-Schlumpf ist Ausdruck dieser differenzierten Sichtweise innerhalb ein und derselben Partei. Wer die Vielfalt innerhalb einer schweizerischen Partei nicht sehen oder akzeptieren will, verkennt eine der urschweizerischsten Eigenschaften schlechthin: Wir sind nun mal eine Willensnation, zusammengesetzt aus zwei christlichen Religionen, vier Sprachen und (heute) 26 Kantonen – gerade dies sollte sich doch auch in den Parteien wiederspiegeln? Wer diese Erkenntnis zu unterdrücken versucht, wird wie Herr Blocher immer und immer wieder auf den Kopf fallen.

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